Bild: ein aufgeschlagenes Buch

Erfahrungsberichte

Hier schreiben pflegende Eltern für pflegende Eltern. Sie berichten von ihren Erfahrungen und ihrem Wunsch nach Unterstützung. Sie berichten von ihren Ängsten, Hoffnungen und Konflikten. Davon, was ihnen auf ihrem Weg guttut, wie sie mit belastenden Situationen umgehen und was sie rückblickend wieder genauso oder aber ganz anders machen würden.

Die Pflege von Kindern ist eine Lebensaufgabe und eine Wundertüte. Erfahrungen zu teilen kann anderen Familien helfen, ihre eigene Reise mit mehr Zuversicht anzutreten.

Von Eltern für Eltern

Das werde ich niemals vergessen

 

Foto: Lara und ihre Tochter

In Filmen gibt es diese Sätze, wie „Ich werde den Tag niemals vergessen, als ich…“. Aber sind wir doch mal ehrlich, wer kann sich denn schon an einen ganzen Tag seines Lebens erinnern? So von vorne bis hinten? Außer vielleicht gestern oder vorgestern.

 

Ich jedenfalls erinnere mich nicht an den ganzen Tag. Aber ich erinner mich gut an den Moment und auch an das Gefühl. An die Haltlosigkeit, das tiefe Fallen, obwohl ich saß. Ich erinner mich an die vielen Tränen und auch an meine brennenden Augen und meine tiefen Schluchzer. Ja, ich erinnere mich an viel. Und an vieles auch nicht.

 

Es war im Sommer 2018, als wir erfuhren, dass unsere Tochter einen anderen Bauplan hat als wir. Als uns Worte wie chromosomale Anomalie wie zerplatzende Wasserbomben mitten ins Gesicht trafen. Es war warm, als uns gesagt wurde, dass unser Kind das Down-Syndrom hat und somit eine Behinderung. Wobei dieses Wort glaube ich gar nicht fiel. Vielleicht weil sie sich nicht trauten es auszusprechen. Wie so viele Menschen da draußen, weil sie glauben, dass es etwas Schlimmes ist. Ich habe auch gebraucht, bis ich es sagen konnte: „Meine Tochter hat eine Behinderung.“

 

Heute, fast sechs Jahre später, da fließt es mir wie selbstverständlich von den Lippen. Da zuckt nichts mehr in mir zusammen, wenn ich an der Kasse stehe und sage: „Oh Moment, ich finde den Schwerbehinderten-Ausweis meiner Tochter gerade nicht.“ Das habe ich mir damals in den heißen Tagen im Sommer 2018 aber noch nicht vorstellen können. Viel zu tief saß die Trauer, der Schock und meine Scham. Ich habe mich geschämt. Vor allem dafür, dass ich mein wundervolles Kind beweint habe. Dieses über alles geliebte Geschöpf. Es hat eine lange Zeit gebraucht, bis ich verstand, dass ich nicht sie beweint habe. Sondern das, was ich verloren habe. Denn dieser Verlust war damals real. Der Verlust dessen, was ich mir für mein und unser Leben ausgemalt hatte. Es tat so weh in diesem Moment. Ich war völlig unvorbereitet und hatte keine Ahnung was auf mich zukommen würde. Und alle Gefühle, die ich damals verspürt habe und die auch heute ab und zu wieder hochkommen, die dürfen sein. Weil Gefühle zum fühlen da sind. Trauer, Machtlosigkeit, Wut, Scham. Das alles gehört dazu.

 

Heute weiß ich, dass das ok war und ist. Dass dieser Trauerprozess sein durfte - viel mehr sogar sein muss. Weil Abschied nehmen dazu gehört - zu einer lebenslangen Diagnose.

 

Um so glücklicher bin ich, dass ich mir selber verzeihen konnte. Weil ich durch die Diagnose und durch meine wunderbare Tochter gelernt habe „anzunehmen“. Ich bin mittlerweile richtig gut darin geworden. Im „neue Situationen annehmen“, im „treiben lassen und hinschauen“ und sogar darin mich selber anzunehmen. Auch darin die Bandbreite von Gefühlen anzunehmen, die mich begleitet. Das mag sich irgendwie ein bisschen kryptisch anhören, meint aber ganz einfache Dinge. Früher habe ich Situation und mein Handeln und Fühlen oft unendlich lang zerdacht. Heute bin ich dank meiner Tochter so viel mehr im Hier und Jetzt. Seit ihrer Geburt lehrt sie mich die kleinen Wunder zu erkennen. Von den ersten Atemzügen ohne Sauerstoffunterstützung bis hin zur ersten selbst aufgesteckten Bügelperle (was eine hohe feinmotorische Leistung ist).

 

Und wenn ich zurück denke an den Tag der Diagnose: An die Wut, die ich auf Grund der unfähigen und empathielosen Ärztin hatte. Wenn ich zurück denke an die Scham, die Angst und all die Hilflosigkeit - dann spüre ich in mir drin, dass ich nicht nur die Diagnose angenommen habe, sondern auch alles was drum herum geschah. Es geht nicht immer darum alles zu erklären oder zu verstehen. Es geht noch nicht mal um verzeihen - ich habe gelernt, dass im Annehmen die Chance liegt nach vorne zu blicken und frei auf das zu schauen, was vor mir liegt.

 

Dafür werde ich meinem Kind auf ewig dankbar sein. Denn ich weiß nicht, ob ich diese Lektion - in dieser Tiefe - jemals ohne sie gelernt hätte.

 

Lara

Ich pflege ein Kind: und jetzt?

Mein Weg in der Selbsthilfe als pflegende Mama

Bild einer pflegenden Mutter

 

Mein Name ist Simone und ich pflege mein Kind. Ein Kind mit einem sehr seltenen Gendefekt. Mein Sohn ist mittlerweile schon fast acht Jahre alt und ich habe etwa ein Jahr nach seiner Diagnosestellung versucht ein Netzwerk für uns aufzubauen. Ich merkte, wie der Austausch mit anderen betroffenen Eltern mich stark und zuversichtlich machte. Ich fühlte mich dadurch weniger verloren in einer Welt von scheinbar ausschließlich glücklichen Familien mit gesunden Kindern.

 

Es war jedoch nicht leicht Anschluss zu finden. Mein Sohn hat einen sehr seltenen Gendefekt. Ich wusste nicht, an wen ich mich wenden kann, und ich gehöre nicht der Generation an, die klassisch einem Selbsthilfeverein beitritt. Also war ich online unterwegs, habe gegoogelt und leider keinen direkten Anschluss gefunden. Vielleicht auch, weil mir am Anfang noch die Begrifflichkeiten fehlten. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich mich selbst als pflegende Mutter bezeichnete.

 

Es dauerte, bis ich herausfand, wie ich die Diagnosen meines Kindes einordnen konnte – behindert, chronisch krank, entwicklungsverzögert. Das waren erstmals Worte, die für mich wenig mit Selbsthilfe zu tun hatten. Wie sehr ich mich da irrte, das fand ich dann erst später heraus. Erst als ich die passenden Worte fand, fand ich meine Community! Meine Selbstwirksamkeit eroberte ich mir auf diese Weise zurück und nach Jahren stellte ich fest: das was du da tust ist ja Selbsthilfe. Endlich hatte ich auch dafür einen Begriff gefunden. Wie gut wäre es gewesen, hätte ich dafür nicht Jahre gebraucht. Hätte mir das jemand mal früher gesagt, wie gut Selbsthilfe tut und, dass Selbsthilfevereine nicht altbacken sind.

 

Bei mir begann alles mit einer geheimen Facebook-Gruppe. Ich recherchierte lange und ausgiebig zum Gendefekt meines Kindes und fand: einfach nichts. Irgendwann suchte ich auf Facebook und wurde durch verschiedene Gruppen geleitet und plötzlich waren da andere Familien. Nicht viele, denn mein Sohn ist laut Literatur nur einer von 15 Menschen weltweit.

 

Es war abends und ich fand Jane. Sie ist Mutter von einer jungen Frau mit genau derselben Genmutation, wie die meines Sohnes. Ich weinte. Wir weinten gemeinsam. Jane machte mir Mut. Es war wie eine virtuelle Umarmung. Jane hat mir in diesem Moment so viel mehr gegeben als jeder Arzt oder Therapeut das hätte tun können. Sie gab mir Verständnis. Sie wusste, wie ich mich fühlte. Sie hatte das alles schon erlebt. Sie hörte einfach zu und wusste, was sie sagen musste, damit ich mich besser fühlte. Leichter. Jane war mein Beginn in Sachen Selbsthilfe.

 

Ich begann selbst zu schreiben, meine Situation in Worte zu fassen und erschuf ein Netzwerk. Plötzlich wurde mir bewusst, dass Social Media für viele pflegende Eltern ein Ort zum Austausch ist. Digital ist vieles einfacher, wenn man nicht so oft das Haus verlassen kann wegen der Pflege. Ich entdeckte EUTBs, psychologische Online-Beratung für pflegende Eltern, Vereine spezialisiert auf die Diagnosen meines Kindes. Und ich fand heraus, dass Selbsthilfe nicht nur vorteilhaft ist, um sich auszutauschen, sondern auch, um Expertenwissen zu bekommen von anderen Betroffen. Wissen, das Ärzte und Pflegepersonen oft gar nicht haben (können). Auf diesem Weg erfuhr ich wahnsinnig viel über Symptome, Diagnose und Lebenswege und gab diese Informationen an Therapeuten und Ärzte weiter. Die meisten Fachpersonen waren dankbar dafür. Gerade bei seltenen Erkrankungen ist Vernetzung auch für Ärzte von Vorteil.

 

Selbsthilfe ist deshalb für mich so viel mehr als nur Erfahrungsaustausch. Für mich war es der Beginn, meine Selbstwirksamkeit als Mutter eines Kindes mit Pflegebedarf zurückzugewinnen. Ich bin der Meinung, dass die Selbsthilfe ein Weg ist, kein Ziel. Ein Weg, der auch mit unseren Veränderungen als Eltern von Kindern mit Behinderung und / oder Pflegebedarf einhergeht. Ein Weg, den wir selbst gestalten können und uns deshalb auch wieder Kontrolle zurück gibt in einem Leben, das sehr stark von Kontrollverlust geprägt ist.

 

Mittlerweile bin ich Mitglied bei Leona e.V., fahre regelmäßig mit meinem Sohn in den Urlaub zum Irmengardhof von der Björn Schulz Stiftung und schätze das Informationsmaterial vom ASBH sehr. Auch die Elterngruppe von Mein Herz lacht e.V. und das Angebot von Lavanja kann ich euch empfehlen, denn der diagnoseübergreifende Austausch kann genauso bereichernd sein, wie der spezifische. Wichtig ist, dass ihr euren eigenen Weg in der Selbsthilfe findet und schaut, was euch persönlich weiterhilft.

 

Simone

 

Diese Sache mit den Hilfsmitteln … und was wir daraus gemacht haben

 

Die Diagnose „Ihr Kind entspricht aus medizinischer Sicht nicht der Norm, ist nicht gesund, ist behindert.“ verändert vieles. Und nachdem wir uns sortiert und verstanden haben, dass das Leben möglicherweise ein wenig anders verläuft, als wir uns das erdacht haben, türmen sich Fragen und Baustellen vor uns auf.

 

Klar ist: Unser Kind wird sein Leben lang auf Hilfe angewiesen sein - von uns, von anderen um uns herum und auf verlässliche, zu unserem Kind passende Hilfsmittel. Aber was ist eigentlich das beste Hilfsmittel für unser Kind? Und wie bekomme ich das? Die Auswahl ist groß, die Beratung etwa durch das vor Ort ansässige Sanitätshaus ist häufig unvollständig, das eigene Wissen zum Thema Hilfsmittel steckt anfangs noch in den Kinderschuhen.

 

So zumindest erging es uns, Janine und Connie, als wir uns aufgrund der gleichen Diagnose unserer beiden Mädchen Finja und Nike, Namensgeberinnen von FiNiFuchs, vor acht Jahren kennen gelernt haben.

 

Nach der Erkenntnis „Mein Kind benötigt ein Hilfsmittel“, etwa weil wir selbst, der Kinderarzt oder das SPZ diesen Bedarf festgestellt haben, wenden wir uns an das für uns zuständige Sanitätshaus. Aber auch die meisten Versorger, die auf Kinder spezialisiert sind, kennen nicht alle Hilfsmittel. Was häufig folgt – so war es zumindest bei uns – ist eine Recherche in Eigenregie: Was gibt es am Markt? Was könnte passen? Was muss eventuell speziell angepasst werden und welche Besonderheiten der eigenen Familie bringt man noch mit? So war es Janine zum Beispiel wichtig, dass der Rehabuggy nicht nur gut in das Auto passt, sondern auch Gelände tauglich ist. Denn nur so konnte auch Finja bei jeder Gassirunde in Wald und Wiesen dabei sein.

 

Im Idealfall begleitet das Sanitätshaus dich durch diesen Auswahl- und Erprobungsprozess und testet mit der Familie die verschiedenen Möglichkeiten. Und wenn die Entscheidung „Das Hilfsmittel soll es sein.“ feststeht, alle Maße genommen und der Kostenvoranschlag vom Versorger vorliegt, geht es in die nächste, häufig ähnlich nervenaufreibende Runde – den Genehmigungsprozess bei der Krankenkasse. Denn entgegen jeder Logik von uns als pflegende Eltern bewerten die Krankenkassen die Notwendigkeit eines Hilfsmittels oftmals anders. Janine hat die Erfahrung gemacht, dass es sehr hilfreich und unterstützend sein kann, sich persönlich bei der/dem zuständigen Sachbeabeiter*in telefonisch vorzustellen und die aktuelle Lebenssituation zu beschreiben. Hilft dies jedoch nichts, dann ist es sinnvoll, einen Widerspruch zu verfassen, untermauert mit Arztbriefen oder Therapieberichten.

 

Unser Fazit: Der Markt für Kinderhilfsmittel ist nicht vollumfänglich transparent ebenso wie der Beantragungs- und Genehmigungsprozess. Außerdem ist er regional sehr unterschiedlich, es gibt eine große Bandbreite qualitativ hochwertiger, für jeden Bedarf passender Hilfsmittel. Jedoch weiß die Mehrheit der betroffenen Familien davon schlicht nichts. Diese - nennen wir es mal Wissenslücke - wollen wir mit FiNiFuchs schließen. Denn warum soll beispielsweise Janine‘s Kind in Bremen in einem super Rehabuggy sitzen, während Connie sich am Bodensee mit einem zu sperrigen, nicht geländegängigen Buggy zufriedengeben muss? Die Idee für FiNiFuchs war geboren.

 

Wir stellen euch auf FiNiFuchs circa 1.300 Hilfsmittel für Kinder und Jugendliche vor, die unser Leben erleichtern und verschönern sollen, wir versorgen euch mit Hintergrundinformationen und Bild- sowie auch immer häufiger Videomaterial und - und das ist das Besondere bei uns FiNiFüchsen - dank der Bewertungen anderer betroffener Familien, erhaltet ihr einen viel besseren Eindruck, was das Hilfsmittel im Praxistest alles kann, wo es an seine Grenzen stößt und könnt so viel besser entscheiden, ob es das richtige Hilfsmittel für euer Kind ist. Außerdem erfahrt ihr bei uns, welches Sanitätshaus in eurer Nähe sich auf eine Versorgung von Kindern spezialisiert hat und euer kompetenter Ansprechpartner ist. Auch hier profitiert ihr von Erfahrungen der Community, die die Sanitätshäuser bewerten kann. Und als gemeinsame FiNIFuchs-Community können wir, dank der Bewertungen, den Kinderhilfsmittelmarkt noch besser machen, indem wir beispielsweise den Herstellern von unseren Erfahrungen berichten. Wir konnten so schon einige Produkte verbessern, haben die Farbauswahl vergrößert, die Funktionalität erhöht, auf Fehlkonstruktionen hingewiesen etc.

 

Lasst uns den Hilfsmittelmarkt gemeinsam besser machen!

 

Wir freuen uns auf euren Besuch unter www.finifuchs.de und wünschen euch viel Spaß beim Entdecken.
Eure FiNiFüchse

 

SPwas?Foto von Mutter Claudia

 

Als Lenas Kinderärztin diese drei Buchstaben zum ersten Mal in meiner Gegenwart erwähnte, schwirrte mir ohnehin schon der Kopf. Wir waren bei einer der ersten U-Untersuchungen, und es was überdeutlich, dass meine Tochter sich nicht mal ansatzweise so entwickelte, wie es Gleichaltrige taten. Therapien, Schwerbehindertenausweis, Pflegegrad, Hilfsmittel... Ich war nicht kurz davor, den Überblick zu verlieren, ich hatte ihn bereits verloren. Und nun also noch dieses SPZ.

 

„MfG - mit freundlichen Grüßen...“ sangen die fantastischen Vier in meinem Kopf und reihten noch weitere Abkürzungen an die Buchstabenfolge SPZ. Ja, mit freundlichen Grüßen, das Leben. Das Leben mit einem behinderten Kind. Ich schaute die Kinderärztin meiner Tochter an. Mein Blick verriet offenbar, was da gerade durch meinen Kopf dudelte. „SPZ steht für Sozialpädiatrisches Zentrum“, erläuterte sie mir. Sie erklärte, dass dort Arzt*innen und Therapeut*innen verschiedenster Fachrichtungen zusammenarbeiteten, um eine möglichst umfangreiche Diagnostik und Behandlung behinderter Kinder zu gewährleisten. „Alles unter einem Dach“ sagte sie. Und: „ Dort finden Sie geballte Kompetenz. Die Zerebralparese Ihrer Tochter ist so komplex und schwer, da komme ich als herkömmliche Kinderärztin mit meinem Wissen an meine Grenzen. Dort kennt man sich mit der Diagnose Ihrer Tochter bestens aus.“

 

Ich ließ mir also von Lenas Kinderärztin die Kontaktdaten des nächsten für meine Tochter in Frage kommenden SPZs geben. Ich lernte schnell, dass „alles unter einem Dach“ für mich vor allem weniger Fahrerei bedeutete. Ich musste nicht mehr von der Physiotherapeutin an einem Ende der Stadt zur Ergotherapeutin am anderen Ende der Stadt fahren. Im SPZ untersuchte man Lena eingehend. Mehrere Ärzt*innen und die beiden Therapeutinnen, die Lena angeschaut hatten, diskutierten dann, welche Therapien in welchem Umfang für Lena Sinn ergeben würden. Bislang hatte ich immer „Mediater“ gespielt, wenn Ergo und Physio unterschiedliche Therapieziele priorisiert hatten. Hier sprachen die Fachmenschen direkt miteinander, was eine schwere Last von meinen Schultern nahm. Auch ein Psychologe war anwesend und wollte, so sagte er mir, „Lenas Seele schützen.“ Ich sah da zwar zu dem Zeitpunkt keinen Bedarf, aber schaden konnte es auch nicht. Und wer wusste schon, was da noch alles auf Lena und uns Eltern zukommen würde in den kommenden Jahren. Spoiler: Einiges!

 

„Alles unter einem Dach“ bedeutete also auch weniger Sorge für mich. Das gefiel mir. Und Lena gefiel das SPZ. Die Therapien waren ihre „Spielzeit“. Sie liebte alle Menschen, die in diesem SPZ mit ihr zu tun hatten und freute sich auf die Therapieeinheiten. Ihre liebste Therapeutin verließ kurz nach Lenas Einschulung das SPZ und eröffnete eine eigene Praxis. Ratet, wer zu ihren ersten Patientinnen zählte?

 

Im SPZ verpasste man Lena auch ihre ersten Orthesen und ihren ersten Stehtrainer. Denn auch die KinderReha-Abteilung des Sanitätshauses mischt in unserem SPZ mit. Regelmäßig ist bei der orthopädischen Sprechstunde auch ein Hilfsmittelfachberater dabei und berät mit den Ärzten und Therapeutinnen, was geändert oder neu erprobt werden soll.

 

Wenn ich heute jemandem erklären soll, was ein SPZ ist, vergleiche ist es gerne mit einem anderen Zentrum: dem Einkaufszentrum. Im Grunde ist das Sozialpädiatrische Zentrum so etwas wie ein Einkaufszentrum für behinderte, chronisch kranke oder entwicklungsverzögerte Kinder. Du gehst da hin, schaust, was es gibt und nimmst dir all das, was dein Kind braucht. Du musst nicht in der Stadt weite Strecken von Laden zu Laden machen, sondern hast alles nah beieinander und erreichst alles, ohne nass zu werden. Außerdem gibt es qualifizierte Berater*innen, die dir sagen, ob die Schuhe auch wirklich dir richtigen für dein Kind sind und ob die zu der Hose passen, für die du dich entschieden hast. Oder ob du es für dein Kind vielleicht besser mal mit einem Kleid versuchen solltest.

 

Claudia

Förderung - oder der bisher längste Lauf meines Lebens

 

Da liegt sie, unsere wundervolle Tochter. Es ist ihr erster oder zweiter Lebenstag, an dieser Stelle ist meine Erinnerung nicht mehr ganz belastbar. Wir sind beide erschöpft von der Geburt, ich zudem von den vielen Arztterminen mit ihr in den wenigen Stunden seit ihrer Geburt. Die Diagnose Down Syndrom hängt wie eine Wolke über uns, wir sind noch sehr unsicher, was die Zukunft für uns und unsere Tochter bringen wird.

 

Es ist schon später Abend, als der Oberarzt noch einmal vorbeischaut um zu sehen, ob alles in Ordnung ist. Unsere Tochter liegt gerade auf dem Wickeltisch, strampelt mit den Beinchen und während der Arzt sie untersucht, erzählt er mir, dass Menschen mit Down Syndrom heute ganz andere Möglichkeiten haben, dass sie lesen und schreiben lernen und auch sonst viel im Leben erreichen können. Ich bin fast überrascht, wie er gar nicht mehr aufhören kann zu sprudeln. Er war mir bisher eher nüchtern und pragmatisch erschienen und ich spüre genau: er will mir Mut machen. Mut, die neue Situation anzunehmen, Mut, an unsere Tochter zu glauben und im besten Sinne des Wortes viel von ihr zu erwarten, Mut, an uns als Familie zu glauben. Und ganz am Ende sagt er den Satz, der den längsten Lauf meines Lebens einläuten wird:
„ Wissen Sie, am Ende sind es 50% die Gene, 50% Ihre Förderung!“

 

Vorläufige Erkenntnisse und Einsichten nach den ersten Kilometern auf der Strecke

 

Förderung ist kein Spurt, sondern ein Marathon. Es gilt sich gut vorzubereiten und mit seinen Kräften zu haushalten. Für mich war sehr hilfreich, viel zu lesen, um viel über die Laufstrecke zu wissen und um auch abschätzen zu können, welche Streckenabschnitte vor uns liegen könnten.

 

Der Weg ist das Ziel. Wenn man Menschen, die gerne laufen fragt warum sie das tun, werden die wenigsten sagen: „Um einen Wettkampf zu gewinnen.“ So ziemlich jede Läuferin und jeder Läufer wird dir sagen: „Weil es mir gut tut!“ So ist es für uns auch mit der Förderung. Sie tut uns gut. Das auf dem Weg sein zählt, nicht das Tempo, nicht der Gewinn einer Trophäe.

 

Go with the flow. Es gibt sie: diese Streckenabschnitte, wo es einfach läuft, wo man sieht, wie sich das durchaus auch anstrengende Training auszahlt, wo die Beine wie von selbst laufen. Es gibt diese Momente puren Glücks auch immer wieder bei der Förderung unserer Tochter und ich verwahre sie, wie in einem mentalen Schatzkästchen, das ich öffne, wenn ich Ermutigung brauche. In solchen Momenten liebe ich es zu sehen, wie meine Tochter ihre Erfolge genießt und freue mich, sie darin unterstützt zu haben. Förderung ist bei uns auch immer quality time zwischen mir und meiner Tochter und uns mittlerweile genauso wichtig geworden wie gemeinsames Spielen und andere schöne Momente des Familienlebens. Und wenn es mal hakt und ruckelt, ist das auch in Ordnung. Trainingspausen sind manchmal erforderlich, damit man mit neuer Kraft wieder anfangen kann.

 

Nicht immer läuft’s rund und manchmal geht es nur langsam voran. Glaubt man denen, die schon mal einen Marathon gelaufen sind, dann gibt es diese fiesen Kilometer, die Streckenabschnitte, wo die Beine brennen und wo man sich fragt, warum man sich das alles antut. Auch ich habe solche Streckenabschnitte hinter mir, wo ich das Gefühl hatte, dass mir die Puste ausgeht. Und ich habe Mitläuferinnen und Läufer kennengelernt, die bestens vorbereitet und voller Motivation und Power sind, und trotzdem ist ihre Pace langsamer als die von anderen auf der Strecke. Hier irrte also unser Arzt. Nicht immer ist Förderung die halbe Miete, denn gesundheitliche Herausforderungen oder andere Voraussetzungen können einen solchen Marathon oftmals als unüberwindbare Aufgabe erscheinen lassen. Diese Läuferinnen und Läufer haben meine ganz besondere Hochachtung, weil sie trotzdem weiterlaufen und zwar in ihrer ganz eigenen Pace.

 

Routinen und Trainingslager helfen. Mein Mann ist ein passionierter Läufer und trotzdem muss er sich manchmal überwinden loszulaufen nach einem anstrengenden Arbeitstag. Warum er am Ende trotzdem läuft? Weil das zu seinem Trainingsplan gehört. Meine Tochter und ich haben ebenfalls unseren einigermaßen festen Trainingsplan. Wiederkehrende kurze Trainingsläufe sind Teil unserer Wochenroutine geworden, so wie tägliches Zähneputzen. Wir stellen uns nicht jeden Tag erneut die (Sinn-)Frage, warum und ob wir heute trainieren sollen. Wir tun es einfach, weil es mittlerweile zu unserem Leben dazugehört. Und dann fahren wir ungefähr 2-3-mal jährlich ins Trainingslager, zum Beispiel zu logopädischen Intensivwochen und kommen bestärkt, mit neuen Ideen und mehr Ausdauer zurück.

 

You never walk alone oder das Beste kommt am Schluss. Abschließend sieht so ein Marathon ja -zumindest von außen betrachtet- nach einer verdammt einsamen Veranstaltung aus. Aber das ist nicht so. Es gibt die Trainingspartner, die Leute an der Verpflegungsstation, das Publikum, im Notfall die Sanitäter am Straßenrand. Bei fortgeschrittenen Läufern gibt es zusätzlich die Pacemaker, die helfen, im Wettkampffieber trotzdem sein Tempo zu halten, die Trainer und das Medic Team. Und in diesem speziellen Marathon gibt es ja auch noch einen Mitläufer oder eine Mitläuferin: dein Kind. Ähnlich wie bei dem Kinderspiel „Dreibeinlauf“, wo man als 2er Team losläuft und das linke Bein des einen mit dem rechten Bein des anderen Läufers verbunden ist, war es uns immer wichtig im Einklang mit unserem Kind zu laufen, um uns nicht zu verheddern oder gar zu stürzen. Unser Kind ist also unser eigentlicher Pace-Maker und das macht sie sehr gut. Sie zeigt uns oft sehr genau, was sie gerade interessiert und fordert auch ein, was sie gerade braucht. Und trotzdem pushen wir sie auch mal, über sich hinauszuwachsen und nicht in ihrer Komfortzone zu verharren. Denn auch das kann sie gut.

 

Sofern du dich also entscheidest loszulaufen, bist du keinesfalls allein. Es gibt die Therapeutinnen und Therapeuten, die dir helfen die richtige Route zu wählen und die Pace zu halten, deine ganz individuelle Pace. Es gibt deine Familie und deine Freunde, die dich und dein Kind anfeuern und euch daran erinnern werden, dass ihr schon echt viel geschafft habt und den Rest auch noch schaffen werdet. Es gibt eure Trainingspartnerinnen und Partner – die community derer, die wie ihr ein Kind mit Behinderung haben und deswegen manches so viel besser verstehen, als andere. Und es gibt die Verpflegungsstationen, wo ihr euch stärkt, bevor ihr – du und dein Kind – zusammen den nächsten Streckenabschnitt in Angriff nehmt.

 

In diesem Sinne wünsche ich euch viel Spaß beim (los)laufen auf der nächsten Etappe. Es lohnt sich. Immer. Und nicht nur für dein Kind.

 

Silke T.

 

 

Drucken